Sandhill Cranes und Snow Geese zu Hundertausenden
Als Europäer sind wir aufgewachsen mit der Vorstellung, dass Naturfilme, die im Fernsehen laufen, ganz außergewöhnliche Tieraufnahmen zeigen, für die sich ein Profi Wochen oder gar Monate lang in einem Tarnzelt auf die Lauer legen und schwer erhältliche Sondergenehmigungen haben muss. Anders herum ausgedrückt: Otto-Normalsterblicher wird solche Szenen niemals live zu sehen bekommen. Amerika belehrt uns eines besseren, und später auch Südafrika, Australien und viele andere Länder und Kontinente werden folgen. In den USA bekommen auch wir Europäer Wildlife zu sehen. Hautnah. In allen Facetten. Farbenfroh und lautstark.
Zum Beispiel im Bosque del Apache National Wildlife Refuge. Ein Feuchtgebiet aus mehreren, aufgestauten Seen, in dem hunderttausende von Schneegänsen (snow geese), Kanada-Kranichen (sandhill cranes) und Entenarten überwintern. Es liegt kein Schreibfehler vor. Nicht hunderte. Sondern hunderttausende. Nachts sammeln sich die Tiere auf den Wasserflächen und starten in der Zeit von vor bis nach dem Sonnenaufgang zum Flug in die umliegenden Futtergebiete. Ein Spektakel, das alle Sinne gefangen nimmt. Das Geschnatter ist Ohren betäubend, der Sound der Schwingen, die dicht über den Köpfen der Besucher hinweggleiten, ist Musik in den Ohren jedes Naturfans. Die schwarzen, geschwungenen Silhouetten der fliegenden Tiere vor dem Panorama eines satt orangeroten Sonnenaufgangs, ist ein Bombardement für die Augen. Besser als jeder preisgekrönte Tierfilm, schöner, als wirklich wahr zu sein. Man steht inmitten der Vogelschwärme und wird umschlossen von ihrem Tagesablauf. Ein Mal im Leben Tierfilmer sein: Hier klappt es!
Die Amerikaner sind sich dieses Privilegs weniger bewusst. Lauscht man den, sehr leise geführten, Gesprächen der allmorgendlich zahlreich anwesenden Fotografen, dreht sich das Interesse mehr um den richtigen Filter, die beste Belichtungszeit oder das Farbmanagement. Dass sie ein Naturspektakel vor Augen haben, das in Europa seit Jahrhunderten der Vergangenheit angehört, nehmen sie für selbstverständlich. Die Natur-Fotografie ist in beiden Welten zu Hause, in der rein technischen ebenso wie in der biologischen. Bei uns überwiegt das biologische Interesse. Abbilden möchten wir das Gesehene, so, wie sich die Natur in einem Augenblick präsentiert. Das Technische ist nachrangig. Natürlich freuen auch wir uns über gelungene Aufnahmen, aber sie sind eher ein Nebenprodukt, oft nicht mehr als Zufall. Wir möchten vor Ort vor lauter technischer Justiererei an den Kameras nicht den Augenblick verpassen, das Reale. Wir versuchen, im Hier und Jetzt aufzugehen. Immer noch eine schwierige Aufgabe für uns Gehetzte, aber wir werden „besser“. Von Reise zu Reise. Nicht das Produkt in Gestalt eines Digitalfotos zählt, sondern das Erlebte, das in Herz und Verstand eindringt und Erinnerungen nährt, die zwar verblassen, aber auch in Jahrzehnten noch eine Assoziation, ein Gefühl wecken werden, wie schön es war, wie sehr es das Leben bereichert hat. Wenn ich zehn Erlebnisse aufzählen sollte, von denen ich bereuen würde, wenn ich sie nicht hätte erleben dürfen, zählen die Vogelschwärme in den Überwinterungsgebieten der USA wie dem Bosque del Apache oder dem Sacramento Wildlife Refuge ebenso dazu wie die Tierherden im südafrikanischen Kruger Nationalpark. Als Europäer hätte ich niemals für möglich gehalten, solche Tiermassen erleben zu dürfen. Die USA sind eben doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – in jedweder Form!
Unsere Bewertung
Attraktivität: *****
Foto-Optionen: ****
Aufwand: *
Anfahrt
leicht, 2 WD, Socorro: ca 19 mi
Wanderung
keine; Rundparcour mit dem Auto und Stopp-Möglichkeiten an Seen, Feldern und Aussichtsplattformen
GPS-Daten
Abzweigung von Old Hwy 85: 33°48‘01‘‘N 106°53‘32‘‘W
Timing ist alles
Timing ist im Bosque del Apache alles – und belohnt einen mit einem Spektakel. An unserem Besuchstag, zu Beginn der Überwinterungssaison, sind laut tagesaktueller Info im Visitor CVenter 52.000 Schneegänse und 6.900 Canada-Kraniche anwedesn, garniert mit Enten aller Art, einem Weißkopf-Seeadler und vielem mehr. Die ersten Schwärme treffen im Oktober ein, die letzten fliegen im April weg. Timing: Wer das Refuge in anderen Monaten besucht, wird kaum mehr als zurückgelassene Federn sehen. Sowohl die Schneegänse, als auch die Kraniche fliegen tagsüber zu umliegenden Futterplätzen: vor Sonnenaufgang. Timing: Um möglichst viel Federvieh zu sehen, sollten Sie deshalb bereits 45 Minuten vor Sonnenaufgang, also ab dem ersten Glimmen Tageslicht am Horizont, am Flight Deck sein. Während Schwärme anderer Seen, die als Nachtlager dienen, auf der Wasserfläche einfliegen und Sie sowohl optisch als auch akustisch völlig in den Bann ziehen, können Sie Stativ und Kamera ausgiebig probieren. Bis zum Abflug sind Sie dann bestens vorbereitet, denn der kommt plötzlich. An manchen Tagen erheben sich alle Schneegänse zeitgleich, an anderen sind einem mehrere Chancen vergönnt, wenn sie zeitversetzt in mehreren Gruppen aufsteigen. Danach bleibt gerade so viel Zeit, um die Fotoausrüstung zu schnappen und zu einem der Teiche an der Straße No. 1 zu einem der dortigen Teiche zu fahren. Hier geht es nahtlos weiter mit den Sandhill-Cranes, die später in den Tag starten. Sie machen ohnehin einen trägen, verschlafenen Eindruck nach dem Motto „Muss ich etwa heute wirklich losfliegen?“. Sie bilden teilweise regelrechte Startbahnen, auf denen sie lustlos Reihen bilden, bis sich die vordersten genötigt sehen, abzuheben. An gleicher Stelle, den Seen entlang der No. 1 landen die Kraniche am Abend auch wieder. Und da die Seen sowohl links als auch rechts der Straße liegen, kann man sie wahlweise gegen den Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang fotografieren – ein unvergessliches Erlebnis. Fazit: Wir haben auf Empfehlung begeisterter Hobby-Ornithologen das Bitter Lakes National Wildlife Refuge und das Muleshoe National Wildlife Refuge besucht. Beide haben ihren Reiz dadurch, dass man die Kraniche hier fast „für sich alleine“ und die Batallione an „uncredible well equipped photographers“ fehlt, aber die Kraniche, die im Muleshoe die 100.000 Marke (!!!) übersteigen können, sind sehr scheu und die Wegeführung hält den Besucher weit von den Teichen entfernt, die zudem nicht zuverlässig wassergefüllt sind. Deshalb ist aus unserer Sicht das Bosque del Apache National Wildlife Refuge in der Summe der beste Ort, um als Reisender diese Naturschauspiel hautnah zu erleben.
Der erste Kontakt
Unser erster Besuch im Dezember 2010 im Bosque del Apache NWR ist noch mehr eine Orientierungsfahrt, bei der wir noch nicht einzuschätzen wissen, welches Juwel da vor uns liegt: „Im Bosque del Apache National Wildlife Refuge steuern wir wie gewohnt das Visitor-Center an. Derzeit sind laut Angaben über 9.000 Sandhill Cranes da und rund 40.000 Snow Geese. Plus Canada-Gänse und viele andere Entenarten. Davon werden wohl ein paar zu sehen sein? Erst am Abend, teilt uns die Dame am Desk mit. Dann kehren die Kraniche und Schneegänse von ihren Futterplätzen auf die Wasserflächen zurück. Hmmmh, dann müssen wir schauen, wie wir uns die Zeit bis zum Abend vertreiben. Das geht leichter als gedacht! Denn entlang der einspurigen gravel-road sind bereits hunderte von Kranichen zu sehen – und zu hören. Wir unterhalten uns auf einem der großzügigen Aussichts-Decks aus Holz mit zwei Amerikanern, die uns den Tipp geben, dass an der Spitze des Loops gute Aussichtsgelegenheiten sind. Damit sollten sie recht behalten. Auf den abgeernteten Maisfeldern, die eigens für die gefiederten Wintergäste angebaut werden, sitzen hunderte von Schneegänse und Kraniche – und es kommen immer mehr Schneegänse angeflogen. Wir halten uns geschätzte 1,5 Stunden hier auf, begleitet von dutzenden anderer Fotografen, die allesamt weitaus professioneller ausgerüstet sind als wir. Mit Mega-Teleobjektiven, mehreren Kameras etc. Als wir die Maisfelder verlassen, sind wir zunächst unschlüssig, ob wir den Süd-Loop noch machen sollen. Priorität hat zunächst noch die Präriehunde-Kolonie. Ohne zu wissen, ob alle schon Winterschlaf halten, fahren wir hin. Und haben Glück: Einige der possierlichen Nager sind aktiv und knabbern an ihren Grassamen. Wir filmen mehr als zu fotografieren, denn Fotos haben wir schon wirklich gute zu Hause im Archiv aus früheren Jahren, Filmaufnahmen noch gar keine. Ich bin richtig glücklich, noch Präriehunde gesehen zu haben – damit war überhaupt nicht zu rechnen. Da sich der Sonnenuntergang nähert, fahren wir weiter nach Norden zu den Seen rechts und links der Straße. Hier reihen wir uns an zwei Stellen in die Riege der Super-Profis beim Fotografieren ein. Der Sonnenuntergang ist keiner der besten, aber die Spiegelungen der Kraniche (hier ist Kranich-Gebiet, Schneegänse sind rar…) im Wasser und die gesamte Stimmung (alle sind mucksmäuschen still) ist herrlich. Learned today: Wir sind hoffnungslos under-equipped mit unserer Fotoausrüstung!“
Wir haben den Dreh raus
Zwei Jahre später haben wir den Dreh dann raus, Dezember 2012: „Der Wecker piepst um 4:30 Uhr, aber H.P. küsst mich vorher wach – er hat seine innere Uhr richtig gestellt und zudem schlecht geschlafen, weil zu viel Ärger im Kopf. Wir fahren ohne Frühstück im Stockdunkeln los und erreichen das Flight Deck um 6:15 Uhr. Zunächst sehen wir in der Dunkelheit niemanden, doch dann machen wir etwas weiter das Teich-Ufer hinauf ganze Batterien von Fotografen mit den dazugehörigen Mega-Tele-auf-Stativ-Besitzern aus. Ich gucke mir ein freies Plätzchen aus – und werde prompt vertrieben. Also bleibt mir ein Platz halb im Wasser und ich muss auf ein paar Ästen balancieren. Die Schneegänse wachen langsam auf und die Sonne färbt den Himmel orangerot. Anstatt lauthals zu schnattern und gleichzeitig aufzufliegen, passiert jedoch etwas viel besseres: Von den Nachbarteichen starten mit unglaublichem Geschnatter riesige Gruppen Schneegänse und landen auf dem Flight Deck Pond! Also erst mal fly-in statt fly-out! Ich kämpfe mit meinen Balancier-Ästen und dem ständigen Wechsel des 300-er-Tele vom Video- zum Fotomodus nebst An-und Ausschalten des Auto-Fokus, denn die Videofunktion justiert nach, wenn alles scharf ist und stellt unscharf, wenn Nachschärfen angesagt ist…. H.P. postiert sich am oberen Ende des Teichs und versucht sein Glück mit dem 200-er Objektiv. Mal sehen, welche Ausbeute wir neben all‘ den Profis um uns herum zustande bringen, deren Kameras bei jeder Auslösung klick-klick-klick-klick-klick machen – wer will denn all diese Over- and Underexposures nachher sichten? Positiv fällt mir auf, dass einige sehr gute Stative mit in jede Richtung locker schwenkbaren „Armen“ haben, die das Verfolgen fliegender Vögel ungemein erleichtern müssen. Als die ersten Kraniche zur Zwischenlandung eintreffen, fliegen die ersten Gruppen Schneegänse auf – nicht alle auf einmal, sondern in größeren Scharen und mit viel Geschnatter.
Erst als fast alle weg sind, verlassen wir das Flight Deck – ich für meinen Teil mit völlig eingefrorenen Fingern, denn die eingesteckten Handschuhen konnte ich wegen der vielen Umstellerei an der Kamera leider nicht eine Sekunde anziehen. Wir folgen der Fotografen-Meute zu einem der Ponds an der Hauptstraße No. 1, um hier ein paar Aufnahmen von den startenden Kranichen zu machen. Der Sonnenaufgang ist längst erledigt, aber das Licht ist immer noch gut und die Kraniche spiegeln sich im Wasser. Nach dieser halben Stunde habe ich einen dermaßenen Unterzucker- Anfall, dass mir regelrecht schlecht ist. Deshalb fahren wir den North Loop bis zum Farm Deck und holen angesichts ein- und ausfliegender Kraniche und Gänse auf die Felder das Frühstück nach. Danach versuchen wir ein paar Aufnahmen, doch das Federvieh hält sich distanziert. Ein kurzer Abstecher im Visitor Center informiert uns darüber, dass derzeit 52.000 Schneegänse und ca. 7000 Sand Hill Cranes da sind, einen der beiden anwesenden Bald Eagle bekommen wir bei unserem kurzen Abstecher auf dem South Loop zu sehen, die Prairie Dogs leider nicht – sie wurden seit einem Monat nicht gesichtet: Winterschlaf. Deshalb starten wir gar keinen Versuch, sondern, rundum zufrieden von einem herrlichen Tag gleich durch nach Truth or Consequences.
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